21
Jun
2011
5

Mein Büro, mein Studio, meine Freunde

Früher war alles besser! Da wurde noch gutes Geld für gute Arbeit bezahlt. Man wusste, wer ein echter Freund ist und musste keine hilflosen Freundschaftsanfrage stellen oder bestätigen. Morgens ging man aus dem Haus und kam abends pünktlich wieder nach Hause. Sonntags ging man in die Kirche und das Wochenende gehörte der Familie. So!
Zwei deutsche Generationen bauten so Ihr Glück auf, bis das Internet kam und alles kaputt machte. Plötzlich war man „überall“, „kannte“ tausende von Leuten und die Zahl der Freelancer explodierte.

Als ich von der Idee des „überall-Büros“ in den Neunzigern hörte, war ich Feuer und Flamme. „Frei sein“, die Arbeitsabläufe so planen, dass sie in den Tag passen (und nicht umgekehrt) und nie mehr irgendwers Büttel sein. Und die Zukunftsforscher prognostizierten die Vereinsamung des Menschen (ach die armen Dinger!). Doch die Rechnung wurde scheinbar ohne die Anpassungsfähigkeit des Menschen gemacht, denn er erfand Blogs, Twitter und Facebook. Real ist doch auch irgendwie Scheisse! Doch halt! Im Grunde liegt der Schlüssel des Glücks und der Anti-Vereinsamung nur in der Art der Nutzung.

Wenn ich morgens in mein Büro meines bescheidenen „Petterson und Findus“ Hauses am Waldrand Seppensens trete, überfliege ich mit einem Lächeln auf dem Gesicht den Schmarrn meiner Timeline und lasse mir von einem Haufen von Leuten Lese- und Linktipps zukommen. Vor 15 Jahren (als ich vor 15 Jahren noch in einer Agentur gearbeitet habe), standen wir  zusammen in der Kaffeküche und haben uns belanglosere Dinge erzählt und sorry – ich vermisse nicht eine Minute! Da hab ich Inputjunkie heute ne Menge mehr Drogen zur Verfügung.

Meine Frau fragt mich manchmal, ob ich bei den Leuten, die mir da den ganzen Tag schreiben, twittern und kommentieren überhaupt noch durchblicke. Ja, tu ich! Denn eine Menge Leute davon hab ich im realen Leben bereits getroffen und kennengelernt. Wahrscheinlich liegt da der Unterschied. Wenn ich beispielsweise nach Düsseldorf fahre, lasse ich es mir nicht nehmen, mit Mr. Photoappar.at RaJu oder Vernon Trent ein Bierchen zu zischen, oder Julchen endlich mal „in echt“ zu treffen. Die Hamburger Fraktion zähle ich mittlerweile zu meiner Kantine (PatrickMartin, Stefan, Stephan, Nils, Roitsch u.v.m.) und sollte ich mal wieder in Berlin sein, werd ich in jedem Falle Malte oder Kai sehen. Und wenn ich auf ein Schwätzchen mit Dresdner Kollegen meine Arbeit kurz unterbreche, dann, weil ich mich an ein nettes Frühstück mit einem wildfremden Fotografen erinnere. Ich ziehe den Hut vor Marie, KaiMarcel und Darek, mit denen ich meinen ganz eigenen Fotomarathon in Kaiserslautern erlebt habe. Ich könnte diesen Artikel mit unzähligen Namen füllen. Ob Ihr es glaubt oder nicht: Ich hab durch Blogs, Facebook und Twitter ne Menge mehr interessante Leute kennengelernt, mit denen ich sogar was anfangen kann, als früher. Klar, wieviele davon am Ende zu meiner Beerdigung kommen würden ist fraglich – ein paar „echte“ Freunde, die ich nicht aus dem Web kenne, gibt´s ja auch noch 😉

Mein Büro ist physisch zwar vorhanden, doch sehe ich es nur als den Platz an dem ich sitze. Mein Büro seid Ihr, mein Studio ist draussen und bei jedem Job woanders. 2011 – passt!

30 Responses

  1. Ach arme, alte Frau… da verliert man ja direkt den Respekt vor dem Alter… 

    „naive und hilflose Schreibereien“ aha – darin sind Sie aber wesentlich besser als ich!

  2. Natascha

    1. Wozu gibt es web 2.0. Wozu gibt es Kommentare? Nur um Komplimente zu schreiben? All diese „nett, toll, suuuuper“.
    2. Ich denke, dass Ihre Frau nicht umsonst besorgt ist. Es nervt schon, wenn dein Schatz den ganzen Tag mit den Tasten klopft und die ganze Welt überzeugt, dass das die neue Art der Kommunikation ist. Ist es nicht. Jemand verdient das gute Geld mit Twitter und Facebook, und Sie sind sein Knecht, sein Leibeigener. Geben verdammt viel Privatinformation von sich. Wozu?
    3. Ich schweige schon, dass man die deutsche Grammatik nicht mehr kennt. Meine russischen Studenten staunen, dass die deutschen Jugendlichen in ihren Blogs so viele Fehler machen.
    Tja, vergessen Sie bitte Ihre Frau nicht…
    4. Ja, ich bin im Jahre 2011. In Deutschland habe ich als Mediengestalterin gearbeitet. Kenne mich in Ihrem Fach schon aus.
    5. „Wutentbrannt“ bin ich nicht. Ich habe rein zufaellig Ihre Seite gefunden. Fand Ihre Schreibereien etwas naiv und hilfslos, und habe auch was geschrieben. Einfach so!
    War überrascht, dass Sie meine Schreiberei veröffentlicht haben. Viele machen es nicht. Das ist nett, mein Kind, sehr nett.
    Das Foto Ihres Arbeitszimmers ist in der Tat sehr nett.

    Alles Gute aus Perm und viel Erfolg!
    http://www.uraltourism.com/indexde.php (ueber meine Stadt)

    Natascha

  3. Liebe Natascha, der Umstand, dass Sie diese Blogpost lesen, bescheinigt Ihnen, dass Sie im Jahre 2011 angekommen sind. Toll!
    Nun möchte ich Ihnen gern erklären, worum es hier geht. Dies ist mein Onlinetagebuch (nicht Ihres). Ich schreibe hier, wie ich die Dinge sehe und mir ist es ein klein wenig egal, ob Sie Twitter, Facebook & Co als Zeitverschwendung erachten.
    Hätten Sie den Artikel gelesen und nicht bereits nach dem zweiten Absatz mit Ihrer grenzenlosen Altersweisheit abgebrochen und wutentbrannt kommentiert, wären Sie darauf gestossen, dass es mir mitnichten darum geht, dass ich diese Kanäle einfach als puren Zeitvertreib sehe, sondern als wahnsinnig grosse Chance auf Gleichgesinnte zu treffen, die ich dann im realen Leben kennen lerne. Sie arme Sie!

  4. Natascha

    Ich bin bestimmt zu alt. Twitter nervt und eine ganze Maenge Leute, mit denen man nur mal plaudern oder Bier trinken auch.
    Ich bin 50 und immer mehr und mehr altmodisch. Tut gut. Mehr schweigen, mehr nachdenken. Hier in Russland, wo ich nach 20 Jahren Berlin wieder lebe, empfindet man die ganze Twitterei und Facebooks als Zeitverschwendung und extreme Abhaengigkeit.
    “ Und die Zukunftsforscher prognostizierten die Vereinsamung des Menschen (ach die armen Dinger!).. Real ist doch auch irgendwie Scheisse! “ Ach Sie armes Kind, Sie koennen nicht mehr anders! Wie schade!
    Natascha

  5. Das sieht ja uuuuuuurgemütlich aus 🙂 ne im Ernst…find ick toll! Ich fänds geil wenn du irgendwann auch mal nen Grund hättest nach Mannheim zu kommen 😛

    Grüüüße in den Norden
    Marc

  6. Max Black

    lol und rofl

    Ihr seid doch wahnsinnig; von einem Piraten muss man anderes erwarten dürfen. Sterben werden wir im Netz – man braucht nur das Profil zu löschen. Beerdigt wird dann nur noch der Server…

    Aber schön, wenn man die Vorteile nutzen kann und Verbindungen „knüpft“, vor allem mit Leuten, die exakt die gleichen Interessen haben.

    Aber wer wird sich denn über Datenschutz aufregen, wenn er zu Apple (icloud) und Microsoft (Office 365) rennt und sein Leben hergibt?

    Liebes GesichtsBuch! Hier ist mein
    Leben; NIMM!

    Ich liebe diese schöne Neue Welt auch; aber ich habe Angst…

  7. Ich habe zwar kein Büro zu Hause und auch ein iPod oder ähnliches Gerät zählt nicht zu den Dingen des täglichen Lebens, aber allein durch Twitter und Facebook habe ich schon sehr viele nette Menschen kennen gelernt. Einige sogar schon im RL.

  8. Pingback : Dinge aus meinem Leben – Folge #1 | Der Typ von Nebenan

  9. Tja ja das liebe Internet macht so manches möglich und irgendwie ist keiner mehr allein im Netz … da können auch coworking und co nicht mit der bunten Vielfalt des Netzes mithalten … guten kaffee habe ich auch zuhause ohne dass mir jemand ein ohr abkaut 😉

  10. Seit ein paar Tagen verfolge ich den „Stilpiraten“ bei Facebook und ich komme nicht darum herum mal ein wirkliches Lob auszusprechen! Sehr sympathisch, sehr professionell, alles wirkt sehr authentisch! Klasse!

    Der neuste Beitrag heute hat auch mir sehr gut gefallen und ich kann zu einem großen Teil, aber halt auch nicht uneingeschränkt zustimmen. Kommentator „Marcel“ hat es auf den Punkt gebracht: Diese ständige Erreichbarkeit und dieses ständige „sein Büro mit sich herumschleppen können“ ist nicht immer wirklich schön. Es ist manchmal auch eine Belastung, gerade wenn man mal eine Phase hat wo der Akku sich dem Ende neigt… Dann kann dieses Image „egal ob bei facebook, Twitter, per E-Mail – der Typ ist immer erreichbar“ wirklich zur Last werden. Die Schattenseite einer ansonsten sehr sonnigen Medienlandschaft mit ihren unzähligen Möglichkeiten.

    Also, ich freue mich über weitere Blog-Gedanken und Photos. Gratulation zu einem tollen Webauftritt!

  11. Also ich sehe das ganz genau so. Habe inzwischen einige gute Kontakte über Facebook, Twitter & Co. kennengelernt. Eigentlich war es bisher immer sehr lustig die Leucht in „echt“ zu treffen. Man hat sofort ein Gesprächsthema und die Abende dauern meistens viel länger als man sich das so gedacht hatte… Ich durfte „Julchen“ (wie süß!) auch schon treffen und wünsch euch beiden viel Spaß. Es lohnt sich 😉
    Also insgesamt finde ich ist dein Artikel extrem passend. Er regt mich jetzt zwar nicht zum nachdenken an, aber spiegelt genau meine Meinung wieder!

  12. Sowas ähnliches bekomme ich auch immer von meiner Frau zu hören. Ich denke die beiden hätten sofort ein Geprächsthema, wenn sie sich mal treffen sollten… vielleicht bei Facebook ;-D Müssense nur mit dem Namen aufpassen …

  13. awsome!
    Wow, Stilpirat, dieser Artikel hat mich echt umgehauen.
    Du hast wohl raus: Virtuelle und echte Freunde beides ist wichtig und dass es zwischen beiden eine Schnittmenge gibt. Irgendwie war das alles für mich nichts neues, aber so sehr auf den Punkt gebracht hab ich das noch nirgends gelesen und selbst ich bisher noch nie gemacht.
    Danke!!!!!

  14. Finde es auch sehr gut geschrieben. Vor allem aber regt es zum Nachdenken an. Wohin wird das gehen. Werden irgendwann alle nur noch „alleine“ in ihrem Büro/Haus etc. sitzen oder bietet es ganz einfach neue, fantastische Möglichkeiten viel mehr Leute kennenzulernen und mehr zu entdecken als es bisher möglich war?

    Also ich wäre für letzteres 😉

  15. Marcel

    @Baba: Natürlich ist der einzelne Mensch dabei ein wichtiger Faktor, doch mal ehrlich, wer wird heute nicht nervös, wenn auf eine eben geschriebene Mail nicht innerhalb von 30 Minuten geantwortet wird?

    Warum gibt es so viele Guides sinngemäß „wie schalte ich mein Handy/Laptop im Urlaub aus?“, da es einfach viele Menschen gibt, die der „modernen“ Arbeitswelt nicht entfliehen können.

  16. Der beste Artikel, den mein Feedreader heute ausgespuckt hat!

    Kann deine Ausführungen nur 100 prozentig unterschreiben.
    Wer das Internet bewusst nutzt kann so viele Kontakte knüpfen, aus denen natürlich auch echte Freundschaften werden können.
    Genau darin liegt der Zweck von Facebook und Twitter. Sie machen die ganze Welt zu einem großen Dorf, in dem theoretisch Jeder Jeden „kennen“ kann. Richtige Freunde müssen sich aber im Reallife rauskristallisieren.

    Gruß Jan

  17. Weise Worte, toller Artikel!

    Ich sehe das genau wie Du. In meinem konkreten Fall bin ich bei Facebook auf ganz viele Freunde in Italien gestoßen mit denen ich sonst sehr losen, sporadischen Kontakt pflegte. Dank Facebook, schreiben wir nun regelmäßig, das stützt unsere Freundschaft und verleiht mir Sprachroutine…

  18. Hallo Steffen,

    eine interessante Sichtweise, dem ich nur zustimmen kann. 😉

    Nur, einige Personen können nicht richtig differenzieren, was reale Freundschaft und virtuelle Freundschaft bedeutet.
    Ich möchte nicht sagen, dass aus einer virtuellen Freundschaft, auch real mal gute Freundschaft entstehen kann.
    Aber es gibt heutzutage Menschen, die genau deinen letzten Punkt nicht begreifen.
    „…wieviele davon am Ende zu meiner Beerdigung kommen würden ist fraglich…“

    @Marcel: Liegt das nicht am einzelnen Menschen?
    Soll man sich wirklich davon lenken lassen, was für andere selbstverständlich ist?

    Gruss Baba

  19. Marcel

    Finde deinen Ansatz interessant und würde das Meiste auch unterschreiben, jedoch lässt Du – meiner Meinung nach – auch manche doch negativen Aspekte unter den Tisch fallen.

    Das „ich kann überall arbeiten“ führt doch oftmals dazu, dass man „zu viel arbeitet“. Nicht nur der eigene Anspruch leitet einen dazu, im Gegenteil wird es doch bei einigen einfach vorausgesetzt.

    Wo früher der Sonntag der „Tag der Familie und Freunde“ war, an dem man eine fest definierte Auszeit hatte, plant man heute oftmals Zeiten für optionale Arbeiten.