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Mrz
2012
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Chandigarh

 

6:32 Uhr. Nun stehe ich hier also auf dem Bahnsteig des Zentral-Bahnhofes in Delhi, der exakt so riecht, wie er aussieht. Mein Zug steht bereits 15 Minuten vor Abfahrt bereit und dampft vor sich hin. Hätte ich so nicht erwartet. Die Kontraste auf einem so kleinen Flecken Bahnsteig in einer Stadt wie Delhi, können größer nicht sein. Hier präsentieren sie sich, als zur Schau getragenes, schlechtes Gewissen derer, die Glück im Leben hatten. Allerlei finstere Gestalten starren mich aus dunklen Ecken an und ich tu so, als würde ich sie nicht sehen. Überhaupt hab ich gerade das Gefühl, das mich der ganze Bahnsteig anstarrt und ich werde permanent  von Typen angequatscht, die meinen Koffer tragen wollen, obwohl ich direkt vor dem Zug stehe. 

Vor der Tür meines Waggons liegt ein Typ in seiner eigenen Pisse und sieht aus als wäre er tot. Ein Typ in Uniform versucht ihn mit Fusstritten zu wecken, was den Pisselieger aber nicht sonderlich zu stören scheint. Ich kümmere mich zunächst um meine Sitzplatzreservierung. Vor jeder Tür klebt eine, mit 9-Nadel Drucker auf Endlospapier ausgedruckte Liste mit  Vor- und Zunamen der Mitfahrenden und deren Sitzplatznummer. Wow! In Deutschland undenkbar. Die Datenschützer würden sich allein bei der Vorstellung die Bäuche vor Lachen halten.

Ich hatte mich, so wie mir geraten wurde, bereits frühzeitig um eine Sitzplatzreservierung bemüht. Wozu man allerdings meinen Namen, mein Alter und das Geschlecht auf die Fahrkarte druckte, schien mir fragwürdig. Jetzt weiss ich es. Ok, ich hab mich auf der Liste gefunden! Faszinierend! Ich will einsteigen, als plötzlich der Pisselieger neben mir steht und mir auf dem Kopf rumtatscht. Meine blonden Haare faszinieren ihn. Er hinterlässt eklige, grüne Spuren einer öligen Flüssigkeit auf meinem Kopf und meiner Hose. RIESIG! Dafür krieg ich aber auch ein Foto von Dir du Strolch!  Ich fotografiere ihn und mache, dass ich reinkomme. So! Ich bin drin und hab einen Gangplatz. Neben mir sitzt ein nervöser Inder, der sich auch noch als penetranter „Aufsteher-und-Klogänger“ entpuppt. All seine Bewegungen sind explosionsartig und sein Rumgezappele macht mich bereits nach 3 Minuten wahnsinnig. Seine Ellenbogen drücken sich ohne jedes Gefühl von Distanz in meine Rippen und er riecht nach Erbrochenem. Jipiiee! So wollte ich es immer haben! Genau dafür hatte ich die erste Klasse gebucht. Willkommen in meinem Leben ihr nächsten Stunden der Endlosigkeit. Ich atme durch den Mund und ignoriere einfach alles um mich. Kopfhörer auf, läuft!

Die Sitze in dieser Klasse sind durchaus bequem und das Catering toppt das von Langstreckenflügen der Lufthansa. Permanent bekommt man warmes und kaltes Essen und Getränke. Ich rühre allerdings aus Angst vor schlimmen Bauchweh-Dingen nichts an. Wie die Inder am frühen Morgen dieses superscharfe Hühnerzeug herunterkriegen, wird mir ein ewiges Rätsel bleiben.

Ich beginne ein Buch zu lesen. Dieter Moor „Was wir nicht haben, brauchen sie nicht.“  und plötzlich sind wir da! Chandigarh! Öööhm! Das Buch war so lustig und spannend, dass ich doch glatt die Zeit um mich komplett ausgeblendet habe. Einzig der Pisselieger und die Stinke-Nase neben mir, war ein Tiefpunkt, ansonsten kann ich der indischen Bahn 10 von 10 Punkten geben (was die erste Klasse betrifft).

Carmen und Ingo schicken mir pünktlich zur Ankunft per SMS eine Adresse zu der ich kommen soll und 10 Minuten später stehe ich vor einer beeindruckenden Villa.  Chandigarh ist im Gegensatz zu Delhi fast schon „clean“. Überall sind Parks, Springbrünnen, Papierkörbe (!) und sogar ein „Rose Garden“ für Verliebte, in dem diese sich küssen dürfen (was in der Öffentlichkeit eigentlich nicht erlaubt ist). Ok, hier liesse es sich wohnen.

In den nächsten beiden Tagen folgen skurrile und nachhaltig beeindruckende Momente, in denen ich mich im Auto des Polizeipräsidenten wiederfinde, vor mir ein mit Maschinengewehr bewaffneter Polizist, ein Locationcheck für die Hochzeit in einer Art Wüste mit kleinem Shoot mit Carmen und Ingo, eine wunderschöne Hindi-Zeremonie in einem riesigen, stylischen Restaurant, das sich später als das Wohnhaus der Familie des Bräutigams herausstellt, eine Henna-Zeremonie, eine Hochzeit auf einer indischen Farm, die mich, ob ihrer Buntheit und Freude fast zum Heulen bringt, eine beeindruckende Braut, eine Bildflut, derer ich erst wirklich glaubhaft werde, als ich sie mir später am Rechner anschaue. Ich bin mitten im Roadmovie eines Fotografen, der ein paar Tage nach Indien geflogen ist.  Ich weiss nicht, wie ich diese beiden Tage jemals sammeln und niederschreiben kann und werde. Gebt mir Zeit. Es war der Hammer!

Nach zwei Tagen stehe ich wieder am Bahnsteig und warte auf den Zug nach Delhi. Eine Horde Kinder steht im Halbkreis um mich und begafft mich. Ich trete die Flucht nach vorn an und fotografiere sie, was ihnen sichtlich Spaß macht. Ein Affe klaut mir mein Sandwich von der Bank und streckt mir die Zunge raus. Arschloch! Die 4 stündige Fahrt zurück nach Delhi, vergeht, dank eines ruhig vor sich hindösenden Sitznachbars, wie im Flug. Und dann hat mich dieser stinkende Moloch Delhi wieder. Der Zug spuckt mich nach diesen zwei Tagen, sauberen Indiens aus und schickt mich hinein in diese abgewrackte und überladene Kulisse eines Films, dessen Kulissenbauer „Gotham City“ lieben, es aber nicht so richtig geil nachbauen konnten. 3 ungewaschene Inder pro Quadratmeter von denen mich mindestens 2 anstarren, anquatschen oder einfach antatschen – und das auf kilometerlangen Strassen. Ich wühle mich durch diesen Brei und laufe direkt zum 500m entfernten Hotel „Ajanta“  in der Arakashan Road, das ein herrliches Delhi-Feeling bietet: Laut, lebhaft aber sehr freundlich und halbwegs sauber. Die Megacoole Dachterasse hier, ist ein Grund allein, sich hier für umgerechnet 20€ einzuquartieren.

Ich kann nicht genau sagen warum, aber ich fühle mich wohl in Indien, obwohl es angesichts meiner Eindrücke keinen Sinn macht. Morgen flieg ich wieder zurück nach Deutschland. Den Beutel voller unwirklicher Eindrücke, verrückter Geschichten und einer gehörigen Portion Erdung. Indien hat mir ne Menge gegeben, ohne sich über mich zu beugen und mir den Kopf zu streicheln. Indien haut dir in die Fresse, rüttelt dich wach und macht dich nachdenklich. Und ja, ich fliege fasziniert zurück.

 

Hier geht es zu Teil 1 und 2 meiner Reiseberichte aus Indien.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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26 Responses

  1. Der Bericht ist einfach Klasse geschrieben. ich habe dein Buch gelesen und verfolge zwischendurch immer mal wieder deinen Blog, köstlich. Ehrlich gesagt könnte ich mir den Stilpiraten durchaus auf einer Bühne vorstellen als Standup Komedian. Falls Du das so rüberbringen kannst, wie du es schreibst, einfach weiter so, davon hätte ich gerne noch mehr 😉

  2. Pingback : Ich bin ein Schönwetterfotograf | Los Holstos

  3. Pingback : Es wird wieder leicht “gay” ;-) | Festbrennbar.de

  4. Whow, das ist wirklich mal ein echt schöner Blog. Und das meine ich wortwörtlich. Allein schon die Optik (normalerweise ist mir das Drumherum nämlich eher wurscht) finde ich sehr schick. Aber auch inhaltlich beeindruckend. Wollte ich nur mal eben gesagt haben. Lg A.

    P.S.: Nur den Submit -Comment Button hätte ich beinahe übersehen 😉

  5. Deine Berichte sind der absolute Hammer! Kann mich nur anschließen. Schreibe weiter Reiseberichte und schaffe Dir damit ein weiteres Standbein. Top-Fotos fallen bei Dir ohnehin an und gehören natürlich dazu. Würde alle Berichte/Reportagen von Dir kaufen und weiterempfehlen, auch wenn ich den einen oder anderen Ort evtl. meiden würde… 😉

  6. Dein Reisebericht hat mich nunmehr überzeugt, ich werde Dein Buch kaufen – und die hoffentlich nachfolgenden „Foto-Reise-Bücher“ wohl auch! Kurzweiliger und authentischer kann man nicht über Land und Leute und Eindrücke vor Ort informiert werden …

  7. india-7 ist der absolute Favorit! Ihr Lächeln ist einfach zauberhaft!! Wie schön, dass du diesen Moment so einfangen konntest… wunderschön. Das Bild haut mich echt um, dieses schüchterne Lächeln und der gesenkte Blick ist einfach nur krass. Und der alte Mann mit den wirren Haaren und dem super offenen Lächeln ist auch toll^^
    CiAO Fr34k

  8. Schmunzeln und Gänsehaut wechseln sich beim lesen ab! Steffen Du schaffst es wie kein anderer mich beim lesen zu fesseln und Deine Bilder sind ein Traum, sie erzählen kleine Geschichten und sie „leben“. Ich glaube wenn das mit den Hochzeiten irgendwann nichts mehr sein sollte gehst Du zum Stern oder machst freie Dokumentarfotografie aus der Welt – Hammer!

  9. steffen……obergeil….
    als nächstes würde ich dich gerne nach vietnam schicken..danke 😉

    es freut mich interpretieren zu können das die inder die du auf der straße fotografierst einen teil deines wohlstandes abbekommen wenn ich foto 9 richtig interpretiere..

    du bist schon einer der ganz großen und das meine ich wie ich es schreibe…

    bitte bitte mehr davon am besten ein buch…wenn ich deine texte lese habe ich das gefühl ich steh neben dir am bahnsteig oder wo auch immer und rieche, schmecke und sehe alles…indien hautnah..der pirat auf landgang

  10. Wieder mal super geschrieben, fesselnd und dann noch mit tollen Bildern belohnt. Der Klick hat sich auf jeden Fall gelohnt.

    PS: Das Buch vom Moor hab ich auch. Ist Klasse

  11. Verdammt ist das geil. Steffen, du musst ein zweites Standbein aufbauen. Reiseberichte!

    Freu mich jetzt schon wie Bolle auf die kommenden Berichte zu dieser Reise.

  12. Philipp

    Spannende Erzählung, und die Photos nach dem Lesen anzusehen gefällt mir großartig. Zuerst die eigenen Bilder im Kopf und dann Deine. Ich sag nicht, ich will mehr, denn Du machst mir Lust, selber zu reisen 🙂

  13. Asien ist toll. Malaysia oder Thailand sind nicht mit Indien vergleichbar, aber ich erkenne dieses „wie zur Hölle funktioniert das hier?“ Gefühl wieder..

    M.

  14. Was Guido sagt…
    Ich dachte bisher ja schon deine fotografischen Qualitäten wären ein Maß, aber deine textuellen Fähigkeiten stehen dem wohl in keinster Weise hinten an.
    Sonst bin ich ja eher ein passiver Mitleser, der Text hier hat mich aber doch sehr begeistert.
    Vielen Dank dafür!

  15. Gefällt mir sehr gut Deine Beiträge
    aus Indien. war 14 Jahren mal für 3 Tage in Deli,aber kann noch viele Dinge nachvollziehen wie du sie kommentierst ! Spitze!

  16. Ehefrau

    Ich würde Guido ja gern widersprechen, kann ich aber nicht!! Bin gespannt auf mehr. Ich lass dir schonmal das Badewasser ein, damit die grüne Flüssigkeit vom Pisselieger wegbekommst. Freu mich auf morgen!!

  17. Köstlich!! Ich glaub ich muss mir doch noch dein Buch zulegen. Ok, ich hab´s bis jetzt noch nicht. Hoffe man toleriert Minderheiten 🙂

  18. Mambo

    <>

    In diesem Satz liegt soviel Wahrheit. Danke für deinen Bericht und die Bilder. Bin schon auf den Polizeipräsidenten gespannt :-).

  19. Ich hab mit Begeisterung deinen ersten Indientrip verfolgt. Ich war vor 25 Jahren da, dann vor 4 und vor 2, also 3 Mal. Indien hat mir so viel gegeben. Alles scheint nicht zu funktionieren und funktioniert eben doch. All die Farben, die Gerüche,…….ach ich möchte schon wieder los, nach Indien. Rishikesh ist mein nächstes Ziel, nach Pune, Mysore und Mumbai.